»Eine glatte 9 mit 66 Jahren«
Projekte klettern – ein spannendes Spiel
Ein Kletterer „hat ein Projekt“, wenn er eine Route einübt. Dabei kann er einen oder hundert Tage damit zubringen, den Durchstieg zu optimieren. Das klingt langweilig. Aber für mich ist es ungeheuer spannend.
Im Frühjahr 2017 bin ich in Kalymnos vom Moped gefallen, die Folge war eine komplizierte Handgelenks-Operation. Das bedeutete mindestens drei Monate Kletterpause, Muskelschwund und wahrscheinlich eine eingeschränkte Beweglichkeit des Handgelenks. Es sah ganz danach aus, als ob ich nie mehr schwer klettern würde. Immerhin war ich damals schon 65. Da packte mich ein starkes Gefühl: Jetzt erst recht! Ich will nächstes Jahr einen glatten Neuner klettern.
Um meine Motivation noch zu steigern (und nebenbei ein bisschen Reklame für meine Bergkrimis zu machen), habe ich im Winter 2017/18 dann auf Facebook mein Ziel gepostet: „Eine Neun mit 66“. Nur für diesen Plan habe ich hunderte von Likes und jede Menge Kommentare bekommen. Die Leute waren fasziniert, dass eine alte Schachtel wie ich das probieren wollte. Die meisten ermutigten mich, aber einige fanden es unsinnig, dass ich einen bestimmten Schwierigkeitsgrad erreichen wollte – das sei doch nicht das Wichtigste beim Klettern. Stimmt. Das Wichtigste ist die Freude am Tun. Ich würde nie ein Projekt nur deshalb wählen, weil es mir machbar erscheint und einen hohen Schwierigkeitsgrad hat. Die Route muss mich antörnen, meine Kletterlust wecken: Da will ich hoch!
Nach einem Muskelaufbautraining im Winter 2017/18 waren die ersten Felskontakte enttäuschend, on sight schaffte ich maximal VIII-. Und ich bekam Kommentare zu hören wie: „Ich dachte, du wolltest Neuner klettern!“ „Eine Neun ist aber verdammt weit weg von einer Acht!“ Es war peinlich, ich fühlte mich als Angeberin. Ein Trost: Wenn ich scheiterte, würde ich in grenzwertigen Routen meine Kraft steigern und neue Bewegungsideen entwickeln. Normalerweise macht man das durch Bouldern, aber für mich ist das Abspringen mit meinem seit einem Vierteljahrhundert geschädigten Knie nicht ratsam.
Und überhaupt: Sch… drauf, was die anderen denken. Ran an den Fels!
Tagebuch-Auszüge vom Urlaub in der Tarnschlucht
18. Mai 2018
Wie wird es mir hier ergehen, in jenem Gebiet, in dem ich vor etwa 15 Jahren meine härtesten Routen geklettert bin? Wir haben nur zwei Wochen Urlaub, bei einem Projekt brauche ich viele Ruhetage. Selbst wenn ich eine Route finde, die mir taugt – wird die Zeit reichen, um die Bewegungen zu perfektionieren?
20.5.
Ich bouldere in einer Neun herum, alles erscheint machbar bis auf einen einzigen Zug, bei dem der Zielgriff für mich so unerreichbar ist wie der Mond – ein Reichweitenproblem. Oder bin ich doch zu ungeschickt, zu schwach? Wie auch immer, ich muss diese schöne Route aufgeben.
22.5.
Und dann entdecke ich sie, die Route, die mir liegt und mich total anmacht. Eine 20-Meter-Seilänge durch eine senkrechte Wand, 7c, glatt Neun. Blöd nur, dass bei der ersten Sichtung die Cruxpassage unmöglich ausschaut. Wie um alles in der Welt soll ich diese Minigriffe halten mit nix für die Füße?
23.5.
Da die Route von einem schmalen Band in der Wand startet, hat Andi im Supermarkt einen Kinder-Klappstuhl gekauft und ihn mit Reepschnüren am Stand fixiert. Dort sichert er mich, gemütlich sitzend nach seiner Hüft-Operation, mit Eselsgeduld. Ich brauche mehr als eine Stunde, dann finde ich in der Crux eine knallschwere Variante, einen Fingerkuppenkiller, der mit maximaler Kraftanstrengung und viel Glück als Einzelstelle vielleicht doch irgendwie möglich erscheint. Aber ich würde voll gepumpt und erschöpft dort ankommen.
24.5.
So schnell gebe ich nicht auf. Ich entdecke, dass das abschüssige Fingerloch, das ich bisher für einen schlechten Witz gehalten habe, auf einer Seite etwas nach innen gekrümmt ist – vielleicht ist es doch zu halten? Aber oh Gott, die Füße. Ich markiere die besten Stellen mit Magnesia und probiere verschiedene Körper- und Fußpositionen aus, bis ich an dieses Loch geklammert stehen kann ohne abzurutschen. Doch nun ist das Käntchen von der Breite eines Messerrückens, das ich unbedingt zum Weiterkommen brauche, viel zu weit weg - egal wie sehr ich mich strecke, mir fehlen etwa 15 Zentimeter. Da hilft nur eins: höher antreten. Aber wo? Ich überprüfe die Unebenheiten in der Wand quasi mit der Lupe. Finde etwas, das den Namen Tritt bestimmt nicht verdient, setze den Fuß darauf und schiebe die Hüfte drüber. Wunder über Wunder: Es klappt!
25.5.
Ruhetag. Ich visualisiere immer wieder, wo ich wie greifen und treten und das Gewicht verlagern muss. In der Nacht vor dem Durchstiegsversuch wache ich oft auf und klettere die Route nochmal im Kopf. Zweifel plagen mich.
Wenn ich zu aufgeregt bin, habe ich schon verloren. Nervosität saugt die Kraft aus den Fingern, die Füße zittern, und plötzlich weiß man nicht mehr, was zu tun ist. Und vor allem fürchte ich, dass meine Ausdauer nicht reicht.
Es ist ungeheuer spannend – wie vor einer großen Bergtour, bei der man weiß, dass sie einem alles abverlangen wird.
26.5.
Ein bissl warm das Wetter, bedeckt, es sieht nach Regen aus. Hoffentlich nicht … Das wäre schon ätzend, noch einen Tag zu warten. Das Frühstück schmeckt wie Sägemehl, in meinem Magen rumort es.
Ich will es schaffen. Heute. Die Zeit läuft mir davon, das Wetter wird noch schlechter werden, bald ist Urlaubsende. Ich habe es satt, mich dauernd für die 7c zu schonen – ich will noch möglichst viel klettern, bevor wir heimfahren.
Für den Nachmittag sind Gewitter angesagt. Wir brechen am späten Vormittag auf.
Andi steigt bis zum Stand, ich hinterher.
Es donnert, Regenschauer. Wir seilen ab. Das war´s wohl.
Drei Uhr am Nachmittag: Das Wetter wird besser (was bei der derzeitigen Wetterlage bedeutet: Es regnet nicht mehr). Die Luftfeuchtigkeit ist hoch. Ich hänge ein Toprope in meine Tour, bouldere noch mal. Inzwischen bin ich mit jedem Griff und Tritt per Du, aber ich fliege gleich zweimal an der Crux raus – die Griffe fühlen sich total glitschig an. Dann nochmal bouldern, den Überschuss an Magnesia mit dem Bürstchen wegputzen.
Die Bedingungen sind alles andere als ideal, aber ein Versuch kann nicht schaden.
Ich ziehe das Seil ab. Mache drei Minuten Pause. Memoriere die Bewegungen.
Dann klettere ich los. Der Anfang ist leicht, aber dann brauche ich volle Konzentration, und ich schaffe die rote, mit Löchern und Leisten gespickte Wand genau wie geplant. Es ist erstaunlich, um wie viel leichter sich alles anfühlt, wenn man die Züge kennt. Die Crux erreiche ich ohne dicke Arme. Wie ferngesteuert klettere ich durch, dann schiebe ich mich ziemlich verkrampft – jetzt bloß keinen Fehler mehr machen! – über eine Platte zu einem Riss mit dem Stand.
Klinken, Aufatmen.
Kein spontaner Jubel – aber ein warmes Gefühl in der Brust.
Dieses Gefühl blieb mir den ganzen Sommer über, und auch heute ist es wie ein Lächeln tief innen drin. Ich habe mein Ziel erreicht.
Später im Jahr gelangen mir im Frankenjura noch eine glatte Neun und einige Routen im Grad Neun Minus.
Bin ich jetzt zufrieden? Natürlich nicht. Mal sehen, was geht!